Soldier saying good bye to his family

Vorverurteilt

Dësen Artikel gouf als Tribune Libre ënnert der Rubrik Zu Gast am Lëtzebuerger Land verëffentlecht.

Frauen sind sanftmütig, liebevoll und wollen beschützt werden. Männer dagegen sind aufbrausend, stark und kämpfen gerne. Bis heute prägen diese Geschlechterstereotypen unser Weltbild – und das trotz mehr als zweihundert Jahren Frauenrechtsbewegung. Selbstverständlich reicht das gesellschaftliche Repertoire an Vorurteilen weit über die Geschlechterrollen hinaus, denn auch Hautfarbe, Nationalität und Religionszugehörigkeit bieten seit jeher ideale Projektionsflächen für pauschale Urteile.

Wie dominant solche Vorurteile in unserem Leben sein können, zeigt sich momentan auch im Kontext des Krieges in der Ukraine: Männer kämpfen und sterben für ihr Vaterland, Frauen retten ihre Kinder über die Grenze. Niemand erwartet von den Frauen zu kämpfen; niemand erlaubt es den Männern zu fliehen. Geflüchtete mit heller Hautfarbe werden in der EU mit offenen Armen empfangen; dunkelhäutige Schutzsuchende ertrinken weiterhin im Mittelmeer oder frieren in den Grenzwäldern zwischen Polen und Belarus. Niemand hat Angst vor ukrainischen Frauen; zu viele misstrauen Männern mit dunkler Haut.

Solidarität ist wichtig. Jede(r) der im Anblick des Kriegsgeschehens in der Ukraine nicht mehr stillsitzen kann und helfen möchte, wird gebraucht. Jede helfende Hand ist wichtig. Aber jeder, der heute die Hand ausstreckt, sollte sich auch fragen, ob er die gleiche Hand Personen anderer Hautfarben und/oder anderer Geschlechter reichen würde.

Rassistische und sexistische Unterscheidungen bei der Leistung von Hilfestellungen dürfen nicht toleriert werden. Wenn (wie vor kurzem geschehen) Geflüchtete aus der Ukraine in Luxemburg untergebracht werden und dafür 70 andere Schutzsuchende aus anderen Ländern gezwungen werden, ihre Unterkunft zu verlassen und in der Notstruktur für Obdachlose zu schlafen, dann ist das unrecht . Und wenn wir alleinstehenden Männern nicht zugestehen, auch schutzbedürftig sein zu können, dann ist das falsch.

Der Krieg in der Ukraine erfüllt uns mit Angst Mensch in Not. Jede Person, die vor Krieg und Schrecken, aber eben auch mit sehr viel Mitgefühl. Genau dieses Mitgefühl gilt es zu kultivieren – und zwar gegenüber allen Menschen. Die aktuelle Welle der Solidarität kann eine Chance sein nicht nur ukrainischen Geflüchteten in ihren dunkelsten Stunden zur Seite zu stehen, sondern darüber hinaus auch mehr Verständnis für das Leid von Schutzsuchenden im Allgemeinen zu entwickeln. Aber das wird nur möglich sein, wenn wir Rassismus und Sexismus keine Chance mehr geben.

Hier ist jede(r) Einzelne gefragt. Niemand außer man selbst kann die eigenen Vorurteile brechen. Man kann sich nur selbst der eigenen Vorstellungen bewusst werden. Wie stelle ich mir eine Frau vor, wie einen Mann? Welche Attribute verbinde ich mit Geflüchteten aus der Ukraine und welche mit Menschen aus Nigeria? Und dann kommt noch die zentrale Frage, die radikale Ehrlichkeit sich selbst gegenüber fordert: Mache ich hier Unterschiede und falls ja, warum? Nur wenn man sich seinen Vorurteilen offen stellt, kann man sie hinterfragen und überwinden.

Wer möchte schon gerne in einer Gesellschaft leben, die sich unkritisch für die eigene Solidarität auf die Schulter klopft, während Rassismus und Sexismus bestimmen, wer ihr Mitgefühl verdient hat und wer nicht. Ein Mensch in Not ist ein Mensch in Not. Jede Person, die vor Krieg und Verfolgung flüchtet, hat die gleiche Solidarität verdient. Die enorme Hilfsbereitschaft gegenüber der Ukraine sollte uns einen Anlass geben, unser Mitgefühl endlich zu universalisiere.